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Naturerfahrung
von Maria Kirady und Tilman Botzenhardt
Die moderne Lebenswelt bietet nicht genügend Freiräume für eine gesunde Entwicklung von Körper und Geist, sagt der Gehirnforscher Gerald Hüther. Und plädiert dafür, Mädchen und Jungen möglichst viel Zeit draußen verbringen zu lassen und so das spielerische Erkunden in der Natur zu fördern
Prof. Gerald Hüther ist Hirnforscher und Autor zahlreicher Bücher zur Kindesentwicklung
© Peter Rigaud
Herr Professor Hüther, manche Eltern lassen ihre Kinder nicht gern in der freien Natur spielen. Sie fürchten, dass dort zu viele Gefahren lauern. Ist das berechtigt?
Professor Gerald Hüther: Nein. Und zwar nicht, weil es in der Natur keine Gefahren gäbe. Natürlich gibt es die, und das ist auch gut so. Denn Kinder brauchen wohldosierte Risiken, damit sie üben können, sich in einer potenziell gefährlichen Umwelt zurechtzufinden. Wenn etwa ein Junge auf einem glitschigen Stein ausrutscht, dann hat er vielleicht eine Schramme, aber er wird von nun an etwas vorsichtiger sein, wahrscheinlich auch umsichtiger. Diese Selbstsicherheit lernt er nirgendwo besser als draußen, etwa in einem Waldkindergarten. Die Natur ist für Kinder ein idealer Entwicklungsraum.
Warum ist gerade die Natur so gut geeignet?
Weil sie lebendig ist, wie die Kinder selbst, sich ständig verändert und mit allen Sinnen wahrgenommen werden kann. Dort haben Mädchen und Jungen ausreichend Platz, um neue Bewegungen auszuprobieren – rückwärtslaufen, klettern, hüpfen, schwimmen. Sie treffen auf Widerstände, an denen sie wachsen können. Etwa, wenn sie über einen Baumstamm balancieren, in Wipfel klettern, so hoch sie sich trauen, oder über einen Bach springen. So werden sie von Mal zu Mal geschickter, bewegen sich immer sicherer, lernen sich selbst und ihre Möglichkeiten immer besser kennen. Gerade kleine Kinder beziehen allein aus solchen motorischen Erfolgserlebnissen viel Selbstbewusstsein. Sie brauchen das Abenteuer – und sie suchen es. Es ist Ausdruck ihrer angeborenen Entdeckungs- und Gestaltungslust.
Was passiert, wenn Mädchen und Jungen keine Gelegenheit bekommen, solche Erfahrungen zu machen?
Ihnen stößt viel eher etwas zu, sie sind weniger selbstsicher. Viele kleine Mädchen und Jungen steigen zum Beispiel eine Leiter vorwärts herunter, mit den Händen im Rücken. Sie hatten offenbar nicht viel Gelegenheit zu klettern, und wenn, hat am Fuß der Leiter ein Erwachsener mit ausgestreckten Armen gewartet. Wenn dann später niemand dort steht, führt das mitunter zu schlimmen Unfällen. Ein weitgehend unbeaufsichtigtes Kind hätte von selbst gelernt, dass es sich mit dem Gesicht zur Leiter hin deutlich sicherer klettern lässt.
(Geo Wissen)